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Der Besuch der DDR-Führung bei einem westdeutschen Unternehmen auf der Leipziger Messe fand in der Regel gegen 13 Uhr statt. Er war meist mit längeren Wartezeiten verbunden, weil man nie genau wusste, wann die Herrschaften kommen. Anschließend ging ich in die Galerie am Sachsenplatz und sah mir dort neue Kunst aus der DDR an, von Malern wie Heisig, Tübke, Mattheuer, die doch zu den wichtigen Malern der Nachkriegszeit gehören. Auch Sitte gehört trotz einer starken politischen Prägung seiner Bilder dazu. Das war für mich die schiere Erholung. Insofern gibt es für mich eine enge Verbindung der Leipziger Messe mit der Kunst aus der DDR.

 

Stabilität und Abhängigkeit

Natürlich war die DDR ein sozialistischer und die Bundesre- publik ein kapitalistischer Staat. Es gab grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, die gar nicht zu überbrücken waren. Die Handelsbeziehungen zwischen DDR und BRD begannen allerdings schon zur Zeit des Interzonenhandels, sprich: in der ersten Nachkriegszeit. Die vier Besatzungsmächte schufen ein Rechtssystem für den Handel zwischen den verschiedenen Besatzungszonen. Auf der westlichen Seite wurde der innerdeutsche Handel umgesetzt und betreut durch die Treuhand- stelle für den Interzonenhandel (TSI). Das war eine Institution, die schon in den 1940er Jahren oder Anfang der 1950er Jahre in Berlin-West eingerichtet worden war. Deswegen hieß bis in die 1970er Jahre hinein der innerdeutsche Handel „Interzonenhandel“. Das konnte die DDR nur schwer ertragen, weil sie nicht als eine Besatzungszone gesehen werden wollte. In den 1970er Jahren missfiel der DDR das immer mehr. Die Bundesregierung kam der DDR schließlich entgegen und nannte die Stelle in „Treuhandstelle für Industrie und Handel“ (TSI) um – die Abkürzung blieb aber die gleiche. Man kann sagen, dass sich der innerdeutsche Handel wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der Teilung zieht, denn der innerdeutsche Handel wurde nie unterbrochen. Der innerdeutsche Handel unterlag erheblichen Schwankungen, aber wurde selbst in Zeiten großer Spannungen fortgesetzt und stellte insofern einen gewissen Stabilitätsfaktor in den so schwierigen, politisch angespannten deutsch-deutschen Beziehungen dar.

Aus diesem innerdeutschen Handel wurde dann in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine zunehmende Abhängigkeit, weil die DDR in einem wirtschaftlichen Niedergang begriffen war. Sie brauchte den Handel mit den nicht-sozialistischen Staaten, insbesondere mit der Bundesre- publik, um mit den Exporterlösen vor allem ihre notwendigen Importe aus dem Westen bezahlen zu können. Die Bundesrepublik war ebenfalls ihr wichtigster und mit Abstand auch größter Partner im Westen. In den 1970er Jahren war die DDR mit Maschinenbau, Elektronik usw. – vom Westen aus gesehen – ein hoch entwickelter, wenn auch sehr spezialisierter Industriestaat, praktisch höher entwickelt als alle anderen osteuropäischen sozialistischen Staaten. Die Konsumgüterproduktion der DDR war dabei ein wichtiges Element im innerdeutschen Handel. Aber diese Position wurde im Laufe der Jahre immer schwächer. Die erheblichen Deviseneinnahmen aus der Bundesrepublik kamen nicht nur aus dem innerdeutschen Handel. Insbesondere bezahlte die Bundesrepublik Gebühren für die Nutzung der Transitstrecken von Westdeutschland nach West- Berlin. Diese Transitpauschalen wurden laufend erhöht und gingen zum Schluss bis an die 800 Millionen DM. Für Westdeutsche, die durch die DDR nach Polen oder in die Tschechoslowakei fuhren, mussten ebenfalls Straßennutzungsgebühren bezahlt werden. Das waren keine so großen Summen, aber auch das gehörte zu den Devisen. Es gab außerdem den Freikauf von politischen Häftlingen, was auch ein politisches Ziel der BRD war. Dafür mussten erhebliche Summen gezahlt werden. In den 1980er Jahren kostete ein politischer Häftling, der freigekauft wurde, knapp 100.000 Mark. Das muss man sich mal vorstellen. Diese Transferleistungen von der Bundesre- publik an die DDR bewegten sich in einer Größenordnung von zwei bis drei Milliarden pro Jahr. Das waren damals enorme Summen.

Diese Einnahmequellen hatten geradezu eine lebenswichtige Bedeutung für die DDR gewonnen. Das bedeutete auch, dass diese Einnahmequellen möglichst nicht durch politische Krisen gefährdet werden sollten, sodass der innerdeutsche Handel ein Stabilitätsfaktor in den deutsch-deutschen Beziehungen war, der auch eine gewisse politische Annäherung mit sich brachte, was allerdings die Öffentlichkeit kaum wahrgenommen hat.

Diplomatische Beziehungen zwischen der DDR mit westlichen Ländern gab es erst nach 1974. Die Handelsbeziehungen waren ein Vorläufer, zum Beispiel in England. Daran kann ich mich erinnern, weil ich 1966 bis 1969 in London an der Botschaft der Bundesrepublik tätig war. Dort gab es eine Art Handelsvertretung der DDR. Ihr Haus lag schräg gegenüber der Botschaft der Bundesrepublik, aber wir sprachen nicht miteinander. Es gab ja keine politischen Beziehungen. Doch ich war damals schon außerordentlich neugierig und hatte im Grunde meines Herzens gar kein Verständnis dafür, dass wir nicht mit unseren ostdeutschen Kollegen redeten, auch wenn sie nicht anerkannt waren, na, bitte schön. Ich erinnere mich dass ich dann ein Konzert des Gewandhausorchesters Leipzig in London besucht habe. Anschließend gab die Handelsvertretung einen Empfang, zu dem ich einfach hingegangen bin. Dort sprach ich zum ersten Mal mit den ostdeutschen Kollegen und stellte mich zu ihrer Überraschung vor. Das waren so die ersten Begegnungen, die damals noch von Neugier geprägt waren und nicht von politischem Interesse.

Von 1974 bis 1977 und von 1982 bis 1988 habe ich dann in Ost-Berlin gelebt, weil ich in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin tätig war, die 1974 eröffnet wurde. 1988 bin ich auf eigenen Wunsch nach New York gegangen und wurde dort Botschafter noch der alten Bundesrepublik bei den Vereinten Nationen. Ich war ja in den Auswärtigen Dienst gegangen, um die Welt kennen zu lernen und nicht unbedingt, mich mit dem anderen deutschen Staat zu beschäftigen. Das wollte ich nun nachholen. Ein halbes Jahr später, Mitte 1989 begann der große Umbruch in der DDR. Ich war plötzlich unglaublich deprimiert, dass ich so kurz bevor es dort richtig losging aus der DDR weggegangen war. Den Umbruch bzw. die friedliche Revolution habe ich so nur aus der Entfernung mitverfolgen können. Das habe ich außerordentlich bedauert.

Bis 1990 gab es die Zollunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR, das deutsch-deutsche Wirtschaftsgebiet, wodurch die DDR über die Bundesrepublik Produkte aus Frankreich und anderen EG-Staaten zollfrei einführen konnte. Die DDR hatte also einen regelrechten Vorteil davon, dass sie ein Wirtschafts- gebiet mit der Bundesrepublik bildete. Davon profitierte sie ganz erheblich. Die westdeutschen Partner waren nicht immer sehr erbaut darüber, weil die DDR auf diese Weise über die Bundesrepublik den Sprung in die Zollunion der Europäischen Gemeinschaft schaffte. Wenn die DDR sozusagen auf normalem Weg Waren nach Frankreich exportierte – Frankreich war ein Teil der Europäischen Gemeinschaft –, dann gab es gewisse Zollschranken; für diese Einfuhr musste Zoll bezahlt werden. Das war eine erhebliche Belastung. Wenn man die Waren über die Bundesrepublik leitete, dann musste die DDR keinen Zoll bezahlen. So konnte man die Zollschranken umgehen. Das war ein großer Vorteil des innerdeutschen Handels, der aufrechter- halten worden war, auch nach- dem die Bundesrepublik Teil der Europäischen Gemeinschaft wurde.

Westdeutsche Handelspartner – so wie Quelle – hatten in der Regel eine direkte Verbindung mit den Außenhandelsunternehmen der DDR, mit denen sie ihre Vereinbarungen schlossen. Zum Teil waren das auch Außenhandelsunternehmen von Kombinaten. Ursprünglich war die Handelsebene auch ein Weg, um dringende politische Fragen inoffiziell zur Sprache zu bringen. Da spielten diese Kontakte schon eine Rolle, ohne dass ich im Einzelnen sagen kann, wer daran beteiligt war. Ich weiß nur, dass es von West-Berlin aus solche Handelskontakte gab, die auch ganz bewusst vom West- Berliner Senat für politische Zwecke genutzt wurden.

 

Sogwirkung und nationaler Zusammenhang

Bis zum Schluss gab es unter- schiedliche Interessen. Die DDR hatte Interesse an Geld. Sie war auf Valuta bzw. auf Devisen angewiesen. Die alte Bundesre- publik hatte natürlich kein besonderes Interesse daran, die DDR mit Geld zu versorgen. Aber sie hatte ein ganz großes Interesse daran, das, was man damals die „menschlichen Erleichterungen“ nannte, voran- zubringen. „Menschliche Erleichterungen“ – das klingt ja heute ein bisschen merkwürdig. Es bedeutete Verbesserungen im Reiseverkehr, der ja stark beschränkt war. Ostdeutsche konnten nur unter ganz eingeschränkten Voraussetzungen in den Westen fahren, auch nicht jeder aus dem Westen konnte in den Osten fahren, weil nicht alle ein Visum bekamen. Dann, 1972 bzw. 1973, wurden durch den Grundlagenvertrag Reisen in dringenden Familienangelegenheiten erlaubt. Ein Ostdeutscher konnte, wenn Eltern, Geschwister oder Kinder im Westen lebten, bei bestimmten runden Geburtstagen, Todesfällen oder Hochzeiten in den Westen fahren. Das waren entscheidend wichtige Punkte für die Bundesrepublik, weil man den deutsch-deutschen Zusammenhalt – manche sprachen von der Nation – erhalten wollte.

Für einen kenntnisreichen Beobachter wäre es wahrscheinlich möglich gewesen, auch auf der Leipziger Messe festzustellen, dass die DDR mit be- stimmten Produkten nicht mehr konkurrenzfähig war und Hilfe aus dem Westen brauchte. Das nahm zu. Ein Kenner konnte so etwas bei bestimmten DDR- Kombinaten erkennen, aber die breite Öffentlichkeit wusste davon nichts. Das heißt, dieses schöne Bild der DDR als einem entwickelten Industrieland hat bis zum Ende angedauert, nur die Realität entsprach dem eben immer weniger. Aber im Westen – in der Bundesregierung, in der Ständigen Vertretung und in vielen westdeutschen Unternehmen – hat man die DDR über- schätzt. Eine genaue Kenntnis der Westverschuldung gab es im Westen nicht, das wurde nicht veröffentlicht. Man ahnte nur, dass die DDR immer wieder Schwierigkeiten hatte.

Die beiden Milliardenkredite von 1983 und 1984 haben zum ersten Mal auch dem Westen die Augen geöffnet, dass die DDR wirtschaftlich in größten Schwierigkeiten war und dass sich dieses Problem mit den beiden Milliardenkrediten noch nicht erledigt hatte. Bis zu diesen Milliardenkrediten hat man die DDR in ihrer Leistungsfähigkeit wesentlich überschätzt, auch danach hat man die wirklich dramatische Notlage der DDR nicht voll überschaut. Auch die DDR-Bürger wussten das nicht. Die haben ihren Staat ja mindestens so sehr überschätzt wie wir im Westen. Von der wirklich ernsten Lage wussten wahrscheinlich nur ganz wenig Leute, die einen Überblick hatten. Dazu gehörte Schalck-Golodkowski und die Plankommission, die ja 1989 der Partei- und Staatsführung einen Bericht über die Westverschuldung erstattete. Da wurde plötzlich bekannt, dass die DDR dem Ende nahe war.

Die Geschichte der DDR ist sehr stark geprägt durch die Sogwirkung der wohlhabenden Bundesrepublik, deren Wirtschaftssystem sehr viel erfolgreicher und effizienter war. Dadurch war die Bundesrepublik im Laufe der Jahre immer wohlhabender geworden und der Lebensstandard war wesentlich höher. So, wie man das nach der Wiedervereinigung auch feststellen konnte. Das ist auch eine sehr tragische Geschichte. Man muss wissen, dass ein Großteil der DDR-Bevölkerung jeden Abend das west- deutsche Fernsehen sah, bis auf einen kleinen Teil, die das nicht empfangen konnten, zum Beispiel im Umkreis von Dresden. Die Bevölkerung hatte über das Fernsehen ein bestimmtes Bild der Bundesrepublik, das die Bundesrepublik ein bisschen schöner darstellte, als sie wirklich war. Das trug natürlich ganz entscheidend zu dieser Sogwirkung bei, dass man jeden Abend die Lebensverhältnisse der wohlhabenden Bundesrepublik beobachten konnte. Das Fernsehen hatte sozusagen die DDR geöffnet, was sie auch nicht mehr schließen konnte.

In den 1970er Jahren, vor allem in den 1980er Jahren, stellte die DDR fest, dass diese Sogwirkung nicht zu ändern war, und begann dann, Dinge auszustellen, von denen die DDR-Bürger profitieren konnten. Das heißt, die Sichtbarkeit von Design sollte auch eine Anregung sein für Ostdeutsche, sich auf diesem Gebiet zu entwickeln und zu engagieren. Der politische Gesichtspunkt der Abgrenzung spielte dabei keine so große Rolle mehr. Diese Sogwirkung ist sicher ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt, der das Verhalten der DDR immer mehr beeinflusste und über die Jahre ganz entscheidend prägend und bestimmend war.

Einerseits wollte die Bundesrepublik diesen künstlichen Staat DDR nicht wirklich als unabhängig und selbständig anerkennen oder allenfalls nur vorübergehend. Andererseits war die Bundesrepublik bestrebt, den Zusammenhalt der Deutschen zu erhalten, und der DDR in dem Sinne zu helfen, dass ihre Bevölkerung nicht unter der Teilung noch mehr leiden musste, als sie das ohnehin schon tat. Es waren immer diese beiden sehr politischen Gesichtspunkte und das national-humanitäre Anliegen, die in Übereinstimmung zu bringen waren. Die Bundesrepublik verlor also das, was ich den nationalen Zusammenhang nenne, nie aus den Augen. Sie hatte immer auch die Lebenssituation der ostdeutschen Bevölkerung im Auge, weil sie daran dachte, dass wir uns doch eines Tages wiedervereinen wollen. Deswegen musste die ostdeutsche Bevölkerung auch ein Interesse daran haben, der Entfremdung entgegenzuwirken,die es ja in einem erheblichen Ausmaß zwischen den beiden Staaten und den Bevölkerungen gegeben hat, trotz der sogenannten menschlichen Erleichterungen. Diese Entfremdung, auch wenn man sie nach meinem Eindruck überschätzte, musste gebremst werden, man musste etwas gegen sie tun, um sich die Chancen für eine Wiedervereinigung zu erhalten. Auch wenn man sich in den 1980er Jahren die Wiedervereinigung kaum noch vorstellen konnte, jeden- falls nicht in einer vorhersehbaren Zukunft.

Diese wirtschaftlich-politischen Entwicklungen, über die wir hier sprechen, waren unglaublich spannend. Aus der Perspektive der Bundesrepublik ging es darum, diese Krisenanfälligkeit zu überwinden und die Stabilität der Beziehungen einigermaßen zu gewährleisten. Zeitweilig stand das unter großem Druck seitens der DDR. West-Berlin war ja rundherum umgeben von der DDR und es gehörte damals auch zu den politischen Zielen der Bundesrepublik, die Lage West-Berlins zu stabilisieren. In den 1960er Jahren gab es eine gewisse Deindustrialisierung West-Berlins mit der Folge einer Abwanderung nach Westdeutschland, die allerdings in den 1970er Jahren wieder aufhörte. Das war eine ganz kritische Entwicklung vor dem Beginn der neuen Ostpolitik unter Willy Brandt.

Der innerdeutsche Handel diente auch dazu, nicht nur West-Berlin einzubeziehen, sondern eben der DDR klarzumachen: Wenn Ihr hier in West-Berlin Druck ausübt, zum Beispiel mit der Sperrung der Transitstrecken, dann wird die wirtschaftliche Unterstützung durch die Bundesrepublik in Frage gestellt. Deswegen waren wir an einem möglichst umfassenden innerdeutschen Handel interessiert, um auch West-Berlin mit abzusichern. Denn die DDR wusste, wenn sie in Berlin Druck ausübt und eine Krise herbei- führt, wird alles in Frage gestellt, was man zwischen den beiden deutschen Staaten bis dahin schon erreicht hatte.

Zwischen der Zeit der Teilung und der heutigen Situation gibt es nach wie vor Zusammenhänge, das ist gar keine Frage. Aber das ist ein anderes und sehr kompliziertes Thema.

Kamera: Armin Linke
Schnitt: Fabian Bechtle
Ton: Estelle Blaschke, Doreen Mende

Dank an Nicole Heide.

2012, Monitorpräsentation mit
Kopfhörern
9:20 min
© PRODUZIEREN 2012